Macht die Lokalgruppe der Seebrücke Erfurt zu einem „sicheren Hafen“ oder bleibt es ein unsicheres Pflaster?

Im Bild: Demonstration „Seebrücke“ in Berlin mit rund 12.000 Teilnehmern am 08.07.2018. Die Demonstranten unterstützen eine humane Flüchtlingspolitik, die zivile Seenotrettung im Mittelmeer und eine Abkehr der Grenzschließung angekündigt durch Horst Seehofer. Die Demonstration zog vom Neptunbrunnen am Alexanderplatz vor das Bundeskanzleramt in Berlin Mitte.
© Nick Jaussi
Julia und Miri von der Seebrücke sprechen mit unique über das Drama auf dem Mittelmeer, die Zukunft der Grenzsituationen in Bulgarien, Kroatien oder Lesbos und Anfeindungen im politischen Aktivismus. Sie engagieren sich in der Lokalgruppe Erfurt und berichten, was noch geschehen muss, dass die Stadt zu einem „sicheren Hafen“ wird.
Unique: Wofür steht die internationale soziale Bewegung Seebrücke?
Miri: Seebrücke ist eine dezentrale Graswurzelbewegung, die neben Deutschland auch in anderen europäischen Staaten agiert. Sie steht ein für globale Bewegungsfreiheit, arbeitet daran, die „Festung Europa“ einzureißen, also gegen das Grenzregime der EU vorzugehen. Wir als Ortsgruppe Erfurt versuchen, öffentlichkeitswirksam auf die Situationen an den europäischen Außengrenzen aufmerksam zu machen und fordern offene Grenzen und Solidarität mit fliehenden und geflüchteten Menschen.
Julia: Wir sind eine Protestbewegung gegen das Sterben im Mittelmeer und gegen die Situationen, die in den Lagern wie Moria herrschen. Wir setzen uns für sichere und legale Fluchtwege und eine menschliche Ankunft in Erfurt ein.
Was sind die zentralen problematischen Missstände, die ihr ansprechen wollt und welche Lösungsansätze gibt es eurer Meinung nach?
Julia: Einer der spezifischen Missstände, der 2018 mit zu der Entstehung der Seebrücke geführt hat, ist, dass immer wieder Menschen im Mittelmeer ertrinken, während die, die aus Seenot gerettet wurden, häufig lange auf zivilen Seenotrettungsschiffen festsitzen. Insgesamt reichen die zentralen Missstände aber weiter, und zwar von Staatsgrenzen, Nationalismus und den Fluchtursachen bis zu den untragbaren Situationen in den Lagern, dem Sterben auf den Fluchtwegen, bis hin zu Rassismus hier vor Ort. Um diese Probleme zu überwinden, müssen langfristig Staatsgrenzen wegfallen. Wir brauchen Bewegungsfreiheit für alle und ein solidarisches Zusammenleben. Kurzfristig gesehen müssen alle Lager an den europäischen Außengrenzen, aber auch in Deutschland und anderen EU-Ländern, wo Menschen in Massenunterkünften untergebracht sind, evakuiert, Seenotrettung entkriminalisiert und mehr sichere Häfen in weiteren Städten eingerichtet werden. Eine weitere Möglichkeit sind Landesaufnahmeprogramme, wie sie z.B. von Thüringen und Berlin beschlossen wurden. Diese werden bislang jedoch vom Bundesinnenministerium unter Horst Seehofer blockiert.
Was bedeutet „sicherer Hafen“ überhaupt?
Miri: „Sicherer Hafen“ ist ein Konzept, was sich auf die kommunale Ebene konzentriert und ein menschenwürdiges Ankommen und Bleiben für geflüchtete Menschen sichern soll. Zum einen zählt dazu die Bereiterklärung von der jeweiligen Stadt oder Kommune, Geflüchtete über den bundesweit einheitlichen Verteilungsschlüssel hinaus aufzunehmen. Zum anderen gehört dazu, ein sicheres Ankommen zu gewährleisten und Anknüpfungspunkte für geflüchtete Menschen zu bieten, am Stadtleben teilzunehmen. Teil vom Konzept ist außerdem die aktive Solidarisierung mit Menschen auf der Flucht. Das bedeutet, dass Städte und Kommunen sich bereit erklären, Seenotrettung zu unterstützen, z.B. finanziell oder in Form von juristischer Beratung.
Julia: Die Punkte stehen alle im Forderungskatalog der Seebrücke, die Städte als „sichere Häfen“ möglichst erfüllen sollen. Um ein sicherer Hafen zu werden, muss eine Stadt nicht alles aus dem Forderungskatalog erfüllen. Erfurt tut das leider auch noch nicht und hat sich weder zur direkten Aufnahme bereit erklärt, noch zur Unterstützung von Aufnahmeprogrammen und einigen weiteren Punkten.
Ist Seebrücke auch vor Ort, also in den Lagern oder an den Grenzen vertreten?
Julia: Nein. Natürlich sind Aktivist*innen durch andere Kontexte vor Ort aktiv – und die überregionale Seebrücke wie auch die Lokalgruppen sind vernetzt mit Organisationen, die an den Außengrenzen oder in Lagern Unterstützungsarbeit leisten und von der dortigen Lage berichten können – zum Beispiel mit der No-Border-Kitchen, Stand by me Lesvos, Equal Rights Beyond Borders oder der Balkanbrücke. Doch der Fokus der Seebrücke liegt darauf, Aufmerksamkeit zu schaffen und Druck von unten aufzubauen, damit sich endlich grundlegend was ändert.
Welche konkreten Aktionen führt die Seebrücke Erfurt durch?
Miri: Ganz viel Öffentlichkeitsarbeit… Demos, Kampagnen, Petitionen und Präsenz im Internet. Wir suchen aber auch die direkte Auseinandersetzung mit parlamentarischen Instanzen. Unser Druck konzentriert sich dabei auf den Thüringer Landtag und auf den Stadtrat in Erfurt – in Vernetzung mit anderen Seebrücken aber auch auf die Bundesebene. Wir versuchen also, umgestaltenden Einfluss auf die abschreckende, abschottende und abschiebende Migrationspolitik zu nehmen. Doch wir wissen, dass sich die staatliche Politik nicht von heute auf morgen ändert. Um gemeinsam und solidarisch für Veränderung zu kämpfen, arbeiten wir mit diversen Strukturen aus Erfurt und Umgebung zusammen. Das sind wichtige und liebgewonnene Kooperationspartner*innen wie der afghanische Kulturverein MOVE e.V., Fridays For Future, Abschiebestopp Thüringen, der Flüchtlingsrat Thüringen, die Refugee Law Clinic Jena oder das Sprachcafé Erfurt.
Julia: In diesen Kooperationen entstehen Veranstaltungen wie Filmvorführungen, Vorträge und Diskussionen, Lesewochen zum Thema Migration und Grenzen und natürlich viele Demonstrationen.
Welche Auswirkungen hatten eure Aktionen bisher auf lokaler Ebene? Welche konkreten Erfolge konntet ihr bisher erreichen?
Julia: Der konkreteste Erfolg ist, dass Erfurt letzten Mai durch den Stadtrat zum sicheren Hafen erklärt wurde. Damit sind es nun inzwischen 236 Städte insgesamt. In Erfurt ist das Ganze unvollständig geblieben. Trotzdem haben wir hier für die Zukunft einen Druckpunkt und konnten mit der „Sicherer Hafen“-Kampagne das Thema verstärkt in das Stadtparlament und in die lokale Zivilbevölkerung rücken. Die bei der Kampagne entstandenen Netzwerke mit parlamentarischen, aber vor allem mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen werden wir weiter nutzen.
Miri: Generell muss inhaltlich von der Stadt auf jeden Fall mehr kommen – dazu gehören auch Maßnahmen hier vor Ort. Von einem sicheren Hafen erwarten wir, menschenwürdige Unterbringung zu organisieren, also dezentrale Sozialwohnungen zu schaffen. Es braucht auch massive Veränderungen in der Praxis der sogenannten Erfurter Ausländerbehörde. Die vergibt zum Beispiel in der Pandemiezeit kaum Termine noch stellt sie elektronische Aufenthaltstitel aus. Währenddessen beteiligt sich die Behörde weiterhin an Abschiebungen aus Thüringen, was wir niemals akzeptieren werden.
Welche Anfeindungen erlebt ihr hinsichtlich der Migrationspolitik, die ihr verfolgt, aus der Politik, aber auch aus der Gesellschaft? Und wie geht ihr damit um?
Miri: Auf der einen Seite haben wir natürlich Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten mit Parteipolitiker:innen. Beispielsweise müssen wir uns oft anhören, dass unsere Forderungen so nicht durchsetzbar seien – da halten wir natürlich dagegen, so gut es geht. Daneben gibt es jedoch auch klare Anfeindungen von rechts, sowohl aus parlamentarischen Reihen, auf der Straße oder in Kommentaren von Nazi-Trollen im Netz. Da werden wir als Gruppe beleidigt, aber es wird eben auch besonders gegen Geflüchtete und Migrant:innen gehetzt. Auf der Straße ist von Kopfschütteln und Zwischenrufen bis hin zu Drohungen und Hitlergrüßen alles dabei. Wie damit umzugehen ist, lässt sich nicht pauschal für unsere ganze Gruppe beantworten. Je nach Situation müssen wir unterschiedlich reagieren – wir wollen rassistische Kackscheiße nicht unwidersprochen lassen und gleichzeitig ist uns Deeskalation und die Sicherheit unserer Demoteilnehmer:innen wichtig.
Was ist euer Ausblick für 2021?
Julia: 2021 wird natürlich weiter durch Corona geprägt sein, aber ich glaube, wir haben als Gruppe das Glück, dass wir damit insgesamt ziemlich gut umgehen und weiter aktivistisch sein können. Wir haben uns schnell auf Online-Treffen umgestellt und werden mit unserem Hygienekonzept weiterhin Demos und Aktionen durchführen. Die Pandemiesituation ist für Menschen, die massenhaft in maroden, überfüllten Lagern festgehalten werden, eine Katastrophe. Deshalb machen wir weiter. Wir wollen noch vor den Landtagswahlen dieses Jahr eine Klage durch Thüringens grünen Minister für Migration und Justiz, Dirk Adams, gegen das Bundesinnenministerium, das ja bislang das Thüringer Landesaufnahmeprogramm blockiert, forcieren. Kleiner Spoiler: Bald gibt es von uns eine Petition dafür, die ihr mit eurer Unterschrift unterstützen könnt.
Was muss eurer Meinung nach in naher Zukunft passieren um die Grenzsituationen in Bulgarien, Kroatien oder Lesbos zu verbessern?
Miri: An allererster Stelle steht da die Evakuierung aller menschenunwürdigen Lager. Um die Situation zu lösen, welche an den EU-Außengrenzen in Serbien, Bosnien, Bulgarien oder in den Staaten, die an das Mittelmeer angrenzen, besteht, muss irgendwer den ersten Schritt machen. Obwohl schon so viele Kommunen in Deutschland aufnahmebereit sind, müssen wir scheinbar noch mehr Druck machen, weil Deutschland sich weiter auf dem Fehlen einer „gesamteuropäischen Lösung“ ausruht. Um das Massensterben im Mittelmeer endlich zu beenden, gilt es, Seenotrettung zu entkriminalisieren und illegale und gewaltvolle Pushbacks nicht zu dulden. Es braucht Konsequenzen für FRONTEX und die jeweils an der Grenze agierenden Einsatzkräfte, die diese Gewalt ausüben. Am Ende geht es um die ganze EU-Migrationspolitik, die im Moment das Recht auf Asyl mit Füßen tritt. Wir brauchen daher ein neues Konzept von Solidarität im Sinne von „Wir arbeiten zusammen, um geflüchtete Menschen human in der EU ankommen zu lassen“ statt „Wir versuchen uns in Abschiebezahlen zu übertrumpfen“.
Julia: Für mich schwingt in der Frage auch ein „Was muss noch passieren, damit sich die Situation endlich verbessert?“ mit. Letztes Jahr wurde erst auf die Situation in Moria aufmerksam gemacht, dann hat Moria gebrannt. Trotzdem wurden die Menschen nicht evakuiert, sondern sitzen in neuen Lagern in Griechenland fest. Da kehrt eine gewisse Hilfslosigkeit ein. Ich werde mich auf jeden Fall weiterhin engagieren und dafür einsetzen, dass die Lager evakuiert werden und dass sich die Situation für Menschen auf der Flucht, aber auch für geflüchtete Menschen hier vor Ort verbessert. Natürlich reicht das nicht und es muss noch mehr passieren. So frustrierend es ist, der Kampf für Bewegungsfreiheit für alle wird wohl nicht in allzu naher Zukunft gewonnen werden.
Miri, seit einem Jahr bei der Seebrücke Erfurt, macht am liebsten Kunstsachen zum Thema Flucht und Grenzen. Er hält außerdem Redebeiträge oder moderiert mal das Plenum.
Julia ist seit letztem Sommer dabei. Am liebsten kümmert sie sich um Veranstaltungsorganisation, schreibt und hält Redebeiträge und macht bei der Vernetzungsarbeit mit.
